Leonid Volkov: Die nächsten Monate (Thread auf Deutsch)

Gerald Hensel
Neue Bellona
Published in
6 min readJul 18, 2022

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Leonid Volkov, Stabschef des inhaftierten russischen Oppositionellen Alexander Navalny, hat auf twitter einen mehrteiligen, englischen Text zu den nächsten Monaten des Ukraine-Kriegs veröffentlicht. Den habe ich (ihm) übersetzt, weil ich dieses Dokument tatsächlich für einen der schlaueren Texte der letzten Zeit halte — und für uns leider programmatisch.

Seinen Text verknüpft er mit einer einfachen Aussage: Putin spielt im kommenden Winter seine zweite und letzte Trumpf-Karte. Danach geht’s bergab. Dennoch muss Europa diesen Winter überstehen und das eben auch, indem es den lauter werdenden Lockrufen von denen widersteht, die Putin bei seinem zynischen Spiel in unseren Ländern unterstützten.

Sehr lesenswert. Original hier: https://twitter.com/leonidvolkov/status/1548697496544694272

Originaltext:

Putins nächste und letzte Schlacht. Ein Text über Putins Strategie und seine letzte Idee, um doch noch die Ukraine zu brechen.

Wir erinnern uns: Kriegsführung im 21. Jahrhunderts besteht aus mehr als nur Feldschlachten. Auf dem Schlachtfeld hat Putins Armee alles gezeigt, was sie kann. Wirklich beeindruckend war das nicht. Die einzige Taktik, die Russland jetzt noch zur Verfügung steht, ist die Taktik der verbrannten Erde, die auf der Überlegenheit der Artillerie beruht.

Ein gut verteidigtes, befestigtes ukrainisches Gebiet wird einem zerstörerischen Beschuss ausgesetzt. Dann schickt das russische Verteidigungsministerium Wagner-Söldner oder Donetsk-Milizionäre, die sie kaum als gleichwertige Menschen sehen, und die sie bei Opferzahlen nicht berücksichtigen; wenn das Feuer erwidert wird, ziehen sie sich zurück und der Beschuss geht weiter, bis die ukrainischen Truppen abziehen müssen.

Diese Vorgehensweise ermöglicht es der russischen Armee, langsam vorzurücken und erhebliche Verluste in der regulären Armee zu vermeiden (die in den ersten Kriegsmonaten 30–50 % ihres Personals verloren hatte), aber jetzt verändern die US-HIMARS Raketenwerfer das Kräfteverhältnis dramatisch und gleichen die russische Artillerieüberlegenheit aus.

Deshalb sehnt sich Putin langsam sehr nach einem Waffenstillstand in der Ukraine. Nicht nur, um Reserven zu schaffen und den Truppen eine Verschnaufpause zu gönnen (was die Ukraine ebenfalls tun wird), sondern vor allem, um den Status Quo zu sichern.

Ein Waffenstillstand würde bedeuten, eine Demarkationslinie auf der Landkarte zu ziehen, die die politische Realität auf Jahre hinaus bestimmen würde — es gibt nichts Dauerhafteres als das Vorläufige. Und wenn dieser Waffenstillstand erst einmal etabliert ist, wird die Partei “Schlechter Frieden ist besser als guter Krieg” in Europa gewinnen.

Die Politiker:innen werden den Wähler:innenn die guten Nachrichten verkünden: Es ist uns gelungen, den Krieg und den Flüchtlingsstrom zu stoppen. Und: Die Kraftstoffpreise sinken wieder. Diese unmittelbaren Folgen des Waffenstillstands werden von den europäischen Politiker:innen sofort bei den kommenden Wahlen in Stimmen verwandelt.

Was die aufgeschobenen Folgen betrifft, so wird Putin seine Kraft und Wut für den nächsten tödlichen und blutigen Angriff in ein paar Jahren sammeln.

In der Ukraine werden weite Teile unter Besatzung bleiben, Millionen von Einwohnern werden vertrieben und Putins Taten ungestraft bleiben. Wenn der Westen dabei hilft, den Krieg zum “Frozen Conflict“ zu machen, dürfen sich einmal mehr zukünftige Generationen von Politiker:innen damit beschäftigen, ihn zu lösen.

Im Moment genießt die Ukraine eine beträchtliche (wenn auch unzureichende und nicht bedingungslose) Unterstützung durch den Westen. Sollte sich jedoch die Idee eines “schlechten Friedens” durchsetzen, wird sich die Situation radikal ändern.

Die Wiederaufnahme der Feindseligkeiten, wenn die europäischen Wähler:innen bereits erleichtert aufatmen, dass der Krieg vorbei ist wird politisch unendlich viel schwieriger sein. Der ukrainische Versuch, das besetzte Kherson oder die Region um Izium wieder zu befreien, wird von der westlichen Gesellschaft ganz anders wahrgenommen werden. Die Meinung wird sein: “Gerade hat sich alles beruhigt, und jetzt schießen sie wieder. Können die Ukrainer denn nie Ruhe geben?“ Ich bin sicher, dass man das in Kiew weiß, aber in Moskau eben auch.

Putins nächste großes Herausforderung im Ukraine-Krieg wird deshalb eine „Sonderoperation” zur Erzwingung eines Waffenstillstands sein. Eines schlechten Friedens, der die Annexion formalisieren und eine mehrjährige Pause zur Vorbereitung der nächsten Kriegsphase ermöglichen wird.

Wie will Putin also den Waffenstillstand erreichen, den er so dringend braucht? Wir haben es bereits im Juni gesehen: Durch Erpressung: Putin weiß, dass die Ukraine keinem Waffenstillstand zustimmen wird. Die öffentliche Meinung in der Ukraine verlangt ganz eindeutig, dass Zelenskyy weiter kämpft. Die Achillesferse der Ukraine ist aber ihre Abhängigkeit vom Westen. Der Krieg hat einen Großteil der Wirtschaft zerstört, und es sind primär westliche Rüstungsgüter, die den Krieg aus ukrainischer Sicht am laufen lassen. Ohne europäische Unterstützung kommt Kiew im Moment nicht aus — und das schafft Möglichkeiten für Erpressung.

Putins Botschaft im Juni war einfach: “Lieber Scholz, Macron, Draghi, entweder ihr zwingt Zelenskyy, meinen Frieden zu akzeptieren, oder ich lasse Nordafrika verhungern, ihr bekommt Millionen neuer Flüchtlinge in Europa, und eure Regierungen werden von Rechtsradikalen übernommen (was Russland finanzieren wird.)“ Das klang zunächst überzeugend, wirklich geholfen hat es Putin nicht.

Als die europäischen Staats- und Regierungschefs im Juni nach Kiew reisten, schrieben viele: “Sie kommen, um Zelensky zu Zugeständnissen zu zwingen”. Außerdem hatten sie mit dem EU-Kandidatenstatus einen mächtigen Hebel in der Hand. Die europäischen Staats- und Regierungschef:innen waren aber besser als von Expert:innen vermutet — Putins Hunger-Drohung hat nicht funktioniert, Werte und Prinzipien haben sich final doch im Westen durchgesetzt. Aber Putin hat nicht nur einen sondern zwei Verbündete. Und weil General Hunger gescheitert ist, wird bald Marschall Winter an die Front geschickt.

Wenn Putin in seinen 22 Jahren an der Macht eines gelernt hat, dann das: Wenn man mit westlichen Politikern nicht direkt verhandeln kann, muss man mit ihrer Wählerschaft zusammenarbeiten. Auch sie sind von der öffentlichen Meinung abhängig (und das ist ihre Stärke, die Putin als Schwäche betrachtet). Auch wenn es noch ein paar Monate sind: In Europa steht der Winter

vor der Tür. Das macht es möglich, in den kommenden Monaten die Gas-Karte mit maximaler Effizienz auszuspielen. Die Aussicht, in den eigenen Häusern zu frieren, ist ein für Europäer:innen seit Dekaden unbekannte Erfahrung und dürfte viele Sorgen bereiten.

Um die Wirkung dieses Tools im Westen zu verstärken, wird Putin alle Mittel und Werkzeuge einsetzen, die er im Laufe der Jahre angehäuft hat: korrupte Politiker und Journalisten, den politischen “Narrensaum” Rechts und Links und TV-”Experten”, die predigen werden: “Natürlich haben wir Mitleid mit der Ukraine, aber wir müssen tun, was Putin will, damit Europa nicht erfriert…”

Welche Mittel haben die liberalen Gesellschaften gegen diese Strategie?

1. Vorgewarnt ist gewappnet. Lassen Sie sich nicht täuschen. Europa wird ein schwieriger Winter bevorstehen (obwohl die Abhängigkeit der Haushalte von russischem Gas nicht so groß ist wie manchmal gefühlt). Aber das ist eben der Preis für die vergangenen acht Jahre der Gleichgültigkeit und Untätigkeit. Europa muss diesen Winter durchziehen und überstehen: Wenn wir jetzt nachgeben und uns Putins Bedingungen beugen, dann wird Europa in 6–8 Jahren einen weiteren Winter erleben, den nuklearen Winter.

2. Das Zeitfenster für die Ukraine, um Kherson und andere Gebiete zu befreien, ist ziemlich klein: Je näher der Winter rückt, desto wichtiger wird für Putin die Erpressung mit Gas (weswegen die Ukraine gerade alle Reserven in die Bresche wirft). Ernsthafte militärische Erfolge sind nicht nur an und für sich notwendig, sondern auch, um die öffentliche Meinung in Europa zu beeinflussen: Die europäische Öffentlichkeit muss wieder an die Möglichkeit eines ukrainischen Sieges glauben und bereit sein, die Zähne zusammenzubeißen und auszuhalten.

3. Denken Sie daran, dass Putin nicht freiwillig auf Hunger und kalte Erpressung zurückgreift. Sein bisheriges militärisches Roulette ist strategisch komplett gescheitert. Putin verliert innerhalb Russlands rapide an Unterstützung. Ihm ist auch klar, dass er nur 2–3 Monate Zeit hat, um einen Waffenstillstand zu günstigen Bedingungen zu erreichen. Ja, dies werden wahrscheinlich die schwierigsten 2–3 Monate sein, aber dann wird Putin auch taktisch den Krieg verlieren, den er begonnen und strategisch bereits verloren hat. Es gilt, den Winter zu überstehen.

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Gerald Hensel
Neue Bellona

Neu-Hamburger, Politologe und Sicherheits-/Geschichtsfreak. Hier nur privat. Beruflich: Co-Gründer und GF bei superspring Marketing Consulting.